Moin!
An dieser Stelle findet ihr in unregelmäßigen Abständen Neuigkeiten, Gedanken, die ich mir mache, Kommentare zu Ereignissen oder Kurzgeschichten.
Die Weisen aus dem Morgenland
In einer Gegend, die man das Morgenland nennt, lebten einmal drei Jungs. Caspar wohnte in einem Dorf im Süden, Melchior in einer Stadt im Westen und Balthasar auf einem großen Anwesen im Osten des Landes.
Sie hatten das Glück, dass ihre Eltern wohlhabend waren. Wie es sich für die Söhne reicher Familien gehörte, wurden sie, als sie etwa 10 Jahre alt waren, auf eine ganz besondere Schule geschickt. Die war zwar recht teuer, gab ihnen aber nach erfolgreichem Abschluss der Prüfungen das Recht, den Titel »Weiser« zu tragen.
Dort lernten sich die drei kennen und wurden die besten Freunde. Als nach einigen Jahren die Schulzeit zu Ende ging, hieß es für die drei Jungs, die inzwischen zu jungen Männern herangewachsen waren, Abschied nehmen, da sie zurück in ihre Heimat mussten. Das war nun recht traurig und um sich zu trösten, schlug Caspar seinen Freunden Melchior und Balthasar vor, dass sie sich jedes Jahr zur Wintersonnenwende treffen und miteinander feiern sollten. Alle waren von der Idee begeistert und sie einigten sich als Treffpunkt auf ihre Lieblingskneipe, die sie während der Jahre des vielen Lernens immer wieder erfolgreich abgelenkt hatte.
Und so zogen sie von dannen, Caspar nach Süden in sein Dorf, Melchior nach Westen in seine Stadt und Balthasar nach Osten auf das elterliche Anwesen.
Aber jedes Jahr im Winter zur Sonnenwende trafen sie sich in der Kneipe und die anderen Gäste riefen: »Seht, da kommen die Weisen aus dem Morgenland!«, denn, ihr erinnert euch, sie durften ja diesen Titel tragen, nachdem sie die Prüfungen der Weisenschule bestanden hatten. Caspar, Melchior und Balthasar tranken, waren fröhlich und erzählten sich, was ihnen im letzten Jahr so widerfahren war.
So auch in diesem Jahr, in dem die Geschichte spielt. Der Weise Caspar war mit dem Kamel aus seinem Dorf im Süden gekommen, der Weise Melchior aus der Stadt im Westen und Balthasar kam aus dem Osten geritten, wo seine Eltern eine große Farm hatten und Kamele züchteten. Sie stellten ihre Tiere in einen Mietstall, denn es war klar, dass sie heute nicht mehr nach Hause reiten würden, und umarmten sich voller Wiedersehensfreude. Dann betraten sie die Kneipe und die anderen Gäste raunten sich zu: »Da sind sie ja wieder, die Weisen aus dem Morgenland.«
Balthasar bestellte die erste Runde, Caspar die zweite und Melchior die dritte. Und so ging es weiter. Irgendwann musste Caspar mal nach draußen. Damals gab es ja noch keine richtigen Klos, die waren zwar schon von den Römern erfunden worden, aber so etwas konnten sich nur reiche Städter in Rom oder so leisten.
Caspar ging also nach draußen, um sich zu erleichtern, und schaute dabei in den dunklen Nachthimmel. Auf einmal fiel ihm ein außergewöhnlicher Stern auf. Er war riesengroß und hatte einen Schweif aus funkelndem Licht.
Caspar staunte sehr und rief: »Balthasar, Melchior, kommt mal schnell raus.«
Balthasar und Melchior liefen vor die Tür und Caspar zeigte ihnen den Stern. Alle drei legten den Kopf in den Nacken und bewunderten diesen wunderschönen Stern. Und sie fanden es sehr seltsam, dass sich der Stern überhaupt nicht bewegte, sondern still an seinem Platz am Himmel blieb. Nicht mehr ganz nüchtern und deshalb voller verrückter Ideen, meinte Melchior, dieser Stern müsse etwas zu bedeuten haben. Auch Caspar und Balthasar verspürten große Lust, dem Geheimnis dieses wunderlichen Sterns auf den Grund zu gehen, den sie, obwohl sie »Weise« waren, weder schon einmal gesehen noch von ihm gehört hatten.
Gesagt, getan. Caspar, Melchior und Balthasar bezahlten ihre offene Rechnung in der Kneipe und im Mietstall – sie hatten Weihrauch, Myrrhe und Gold dabei, was sich damals gut eintauschen ließ und gerne zum Bezahlen genommen wurde. Sie zogen ihre unwilligen Kamele aus dem Stall, sattelten sie und ritten in die Richtung, die der Stern ihnen wies. Es erwies sich allerdings als etwas schwierig, im Dunkeln und mit einigen Promille, die Richtung zu halten. Ein ums andere Mal landeten Caspar, Melchior und Balthasar im Feld. Einmal ritt Melchior sogar in einen Bewässerungsgraben, woraufhin sich Caspar und Balthasar schier ausschütten wollten vor Lachen.
Aber schließlich standen sie kurz vor der Morgendämmerung vor einem kleinen Stall und es hatte den Anschein, dass der Stern genau über dessen Dach stand. In dem Stall brannte Licht. Caspar, Melchior und Balthasar stiegen von ihren mittlerweile sehr mürrischen Kamelen und betraten den Stall.
Was sie dort sahen, ließ sie alle Albernheiten vergessen und ernst und ehrfürchtig werden. In dem Stall saß eine junge Frau mit einem neugeborenen Säugling im Arm, neben ihr stand ein junger Mann, der Caspar, Melchior und Balthasar misstrauisch entgegensah. Es kam ihnen so vor, als seien die Frau und ihr Baby das Schönste, Hellste und Erstaunlichste, was sie je gesehen hatten. Voll des Überschwangs schenkten sie all ihren Weihrauch, die Myrrhe und das Gold dem Kind.
Da sie diese Familie nicht länger stören wollten, schwangen sich Caspar, Melchior und Balthasar nach einer Weile des ehrfürchtigen Staunens wieder auf ihre Kamele und ritten nach Hause. Jedem, dem sie begegneten und auch später in ihrer Heimat erzählten sie von diesem besonderen Kind und dem Stern, der sie dorthin geführt hatte. Aber alle, die Caspar, Melchior und Balthasar kannten, waren sicher, dass sie mal wieder auf ihrem Jahrestreffen zu viel getrunken hatten, und glaubten ihnen nicht.
Jahre später, Caspar, Melchior und Balthasar trafen sich immer noch einmal im Jahr in der Kneipe, kam die Kunde auf von Jesus, dem neuen Anführer der Juden, der so arm gewesen war, dass er in einem Stall geboren wurde, woraufhin Caspar, Melchior und Balthasar endlich recht bekamen und fortan den Titel »Besonders Weise« tragen durften.
Mein Beitrag zum letztjährigen Schreibwettbewerb von BoD zu dem Thema "Love Between The Pages"
Bücher am Fluss
Da war sie wieder. Schon von weitem sah er sie auf der Bank sitzen, wie schon die Tage zuvor. Zum ersten Mal war sie ihm vor einigen Tagen auf seinem Nachhauseweg durch die Parkanlage entlang des Flusses aufgefallen. Sie hatte eine der Bänke mit Blick auf das Wasser gewählt. Und seitdem hatte sie jeden Nachmittag dort gesessen. Die schlanken Beine anmutig übereinandergeschlagen, bedeckt durch einen Rock, der über ihre Knie reichte.
Wie schön, dachte er. Welche Frau trug heutzutage noch Röcke? Die allermeisten zwängten sich in oftmals zu enge Hosen, die ihre Unzulänglichkeit betonten, anstatt sie zu umschmeicheln. Nicht so diese schöne junge Frau. Passend zu den weich fallenden Röcken kleidete sie sich in ihren Körper umfließende Blusen.
Sie wirkte ein wenig aus der Zeit gefallen, was nicht zuletzt daran lag, dass sie stets in ein Buch vertieft war. Auch hier drängte sich ihm die Frage auf, wer in der gegenwärtigen Zeit noch ein Buch las. Das Handy, das an manchen Händen festgewachsen schien, hatte diese Form der Unterhaltung verdrängt. Jeder stierte auf dieses Gerät in seiner Hand, verplemperte seine Zeit mit sinnlosem Geschwätz oder Spielchen, die höchstens das Attribut »Zeitdiebe« verdienten.
Sie war ihm sofort aufgefallen und inzwischen sehnte er den Feierabend herbei, um sie wiederzusehen. Und jedes Mal, wenn er das triste Gebäude verließ, das seinen Arbeitgeber und mit ihm sein Büro beherbergte, fürchtete er, sie nicht anzutreffen. Doch auch heute saß sie wieder auf der Bank. Er verlangsamte seinen Schritt, wollte sie länger anschauen, sich jede Einzelheit einprägen und mit nach Hause nehmen. Schon bald hatte er bemerkt, dass sie nie dasselbe Buch in der Hand hielt. Mal war es dick, dann wieder dünn, die Farbe der Umschläge variierte. Sie musste schnell und viel lesen, wie sonst hätte sie jeden Tag ein neues Buch in der Hand halten können. Wie gerne hätte er gewusst, um welche Bücher es sich handelte. Waren es Werke von bedeutenden Autoren oder leichte Literatur wie Krimis oder gar Liebesromane? Diese beliebigen Schnulzen mit Happyend-Garantie, was ihn sehr enttäuscht hätte.
Um dies zu erfahren hätte er näher an ihr vorbeigehen müssen. Leider führte sein Weg hinter den Bänken entlang, der überdies durch Bäume von ihnen getrennt war. Zu auffällig wäre es, wenn er vor ihr vorbeiliefe. Womöglich würde sie ihn bemerken. Das durfte auf keinen Fall geschehen, zu groß war seine Angst, der Zauber könnte zerstört werden. Sei es, dass sie den Blick von ihm abwendete, wie es die meisten Frauen taten. Oder für den höchst unwahrscheinlichen Fall, sie würde ihn anlächeln, schadhafte Zähne entblößte.
Schaudernd entsann er sich einer der seltenen Gelegenheiten, bei dem eine Frau in einer Bar, neben die er sich gesetzt hatte, um seiner Einsamkeit zu entfliehen, nicht von ihm abgerückt war, sondern ihm ein Lächeln geschenkt hatte. Doch dieses Geschenk hatte in nikotingelben, schiefen Zähnen bestanden und er hatte das Weite gesucht.
So ging er wieder nur hinter ihr entlang, langsam zwar, aber ohne das Wagnis entdeckt zu werden. Der Wind wehte ihm einen zarten Duft zu, einen Hauch von Parfüm.
Er schlief schlecht in dieser Nacht. Seine Phantasie schlug Purzelbäume. Wer war diese geheimnisvolle Frau? Warum saß sie jeden Tag auf dieser Bank? Beschränkte sich ihr Aufenthalt auf die Arbeitstage oder war sie ebenso am Wochenende an jener Stelle? Und wo war sie zuvor gewesen? Eines Tages hatte sie dort gesessen und seitdem jeden Tag. Lag es an dem anhaltend schönen Wetter? Wo las sie bei Regen?
Vielleicht schrieb sie Rezensionen von Büchern. Möglicherweise betrieb sie einen Blog und veröffentlichte ihre Buchkritiken im Internet. Der Gedanke elektrisierte ihn. An Schlafen war nun gar nicht mehr zu denken. Er stand wieder auf und warf seinen PC an. Ihm war sehr wohl bewusst, dass er die Nadel im Heuhaufen sucht, konnte es aber nicht lassen. Er gab die Suchbegriffe Blog, Bücher und den Namen seiner Stadt ein. Nur zwei Vorschläge wurden angezeigt und da sich die Leute, die ihr Geld im Internet verdienten, nicht scheuten, Fotos von sich zu veröffentlichen, stellte er schnell fest, dass er natürlich keinen Treffer gelandet hatte. Er suchte erneut, dieses Mal ohne den Ortsnamen. Das Ergebnis war überwältigend. Er würde Tage wenn nicht Wochen damit verbringen müssen, sie alle anzuklicken und sich die Fotos der Blogbetreiber anzuschauen. Und dies auf die bloße Idee hin, die Frau könne einen Blog schreiben.
Wenn er allerdings wüsste, welche Bücher sie las, wäre es sicher leichter, ihren vermuteten Blog zu finden. Er brauchte nur den Buchtitel einzugeben und würde einen Treffer erhalten, wenn sie ihre Rezension veröffentlichte. Sofort begann er, Pläne zu schmieden, wie er sich ihr unauffällig so weit nähern könnte, um in der Lage zu sein zu erkennen, welches Buch sie las. Die leise mahnende Stimme in seinem Kopf, er verhalte sich wie ein Stalker, überhörte er geflissentlich.
Morgen war Samstag. Er nahm sich vor, zur gleichen Zeit wie die Tage zuvor in den Park zu gehen. Wenn sie wieder dort wäre ... Ja, was dann? Würde das Wissen, dass sie auch am Wochenende in den Park ging, um zu lesen, sie ihm ein Stück näherbringen? Nicht, wenn er sie nicht endlich ansprach, und dagegen sprach so einiges.
Er registrierte, dass sich seine Gedanken im Kreis drehten. Er sollte schlafen, seinem Geist Ruhe gönnen und auf eine Entscheidung im ausgeruhten Zustand hoffen.
Bei Tageslicht besehen, kam ihm sein Vorhaben verrückt vor. Er sah die Gefahr, sich vollends in einen gestörten Eigenbrötler zu entwickeln. Er sollte diese Frau in Ruhe lassen und sie vergessen. Wenn es ihm bestimmt war, würde er eines Tages eine Frau kennenlernen, die sich nicht an seiner Verschrobenheit störte. Es war noch gar nicht so lange her, dass ihn Schröder, sein ungeliebter Kollege, gefragt hatte, ob er schon einmal auf Asperger getestet worden sei. Er hatte sich, nachdem sich seine erste Empörung gelegt hatte, eingehend mit dieser Autismusstörung beschäftigt und sich leider in vielen Dingen wiedergefunden. Seine Ordnungsliebe, die schon seine Mutter beunruhigt hatte, seine Unfähigkeit zu Small Talk, seine Verbissenheit in Bezug auf die ihm übertragenen Aufgaben, mit deren Ergebnissen er erst zufrieden war, wenn alles bis ins letzte Bisschen perfekt war. Doch er hatte ebenfalls von berühmten Persönlichkeiten gelesen, die trotz oder gerade wegen ihres Aspergerautismus Großartiges geleistet hatten. So weit ging er nicht, sich mit solchen Menschen zu vergleichen, aber ein Recht auf Glück hatte auch er. Sicherlich gab es die eine Frau für ihn, das Deckelchen für das Töpfchen.
So beruhigt gestaltete er sein Wochenende wie sonst auch. Zunächst erledigte er seinen Wocheneinkauf. Danach duschte er und verbrachte den Rest des Tages mit Lesen und Kochen. Am nächsten Tag rief er wie jeden Sonntag seine Mutter an. Da das Wetter immer noch herrlich war, machte er anschließend einen langen Spaziergang an der Elbe und ließ den Tag am Strand von Övelgönne ausklingen. Doch immer wieder meldete sich eine Stimme in seinem Kopf, die ihm zuflüsterte, was, wenn die Frau auf der Bank die eine Frau wäre.
Am Montag hatte die flüsternde Stimme über Nacht an Kraft gewonnen – sie flüsterte nicht mehr, vielmehr rief sie jetzt – und all seine guten Vorsätze gerieten ins Wanken. Entgegen seiner sonstigen Fokussierung auf seine Arbeit war er an diesem Tag fahrig und zerstreut. Seine Gedanken kreisten solchermaßen um die Frau, dass er vor sich selbst erschrak. Was geschah da mit ihm? War das die berühmte und viel zitierte Liebe auf den ersten Blick oder war er kurz davor, überzuschnappen?
Das musste ein Ende haben. Gegen Mittag fasste er den Entschluss, den Stier bei den Hörnern zu packen. Heute Nachmittag würde er sie ansprechen. Er würde zu ihr gehen und sie fragen, was sie lese. Er würde ihr erzählen, dass er ebenfalls viel lese, und dann würde sich das Weitere von selbst ergeben. So hoffte er. Und wenn sie nicht gut auf ihn reagierte oder sich doch nicht als die herausstellte, die er sich in seiner Phantasie ausgemalt hatte, könnte er immerhin mit der ganzen Geschichte abschließen. Ja! So würde er es machen.
Den restlichen Tag verbrachte er in einer ihm unbekannten Anspannung, in der er zwischen Euphorie und lähmender Angst schwankte. Dann endlich war sein Arbeitstag vollbracht. Hastig packte er seine Sachen zusammen und nach einem schnellen Abschiedsgruß an seinen Kollegen, verließ er das Büro. Er holte das Buch, das er gerade las und mit dem er sich seine Mittagspause vertrieb, aus der Aktentasche und klemmte es sich gut sichtbar unter den Arm. So ausgerüstet lenkte er seine Schritte in den Park und versuchte, sich nicht auszumalen, wie groß seine Enttäuschung wäre, wenn sie nicht auf der Bank säße. Doch schon von weitem sah er ihre Gestalt auf der Sitzbank. Er zögerte. Sein Mut drohte ihn zu verlassen. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Doch dann holte er tief Luft, straffte die Schultern und schritt zügig auf sie zu.
***
Schon von weitem sah sie ihn, wie jeden Nachmittag, seit sie diese Bank zugewiesen bekommen hatte. Diesmal bewegte er sich nicht verstohlen, sondern zögerlich. Ob er wohl ihr Adressat war? Wenn ja, machte er seinen Job nicht gut. Schließlich ging es ja darum, nicht aufzufallen und dieser Mann und wie er sie anstierte, war alles andere als diskret. Im Übrigen wäre es extrem stümperhaft, jeden Tag dieselbe Kontaktperson zu schicken. Ihre Ausbildung hatte sie gelehrt, dass in solchen Fällen von Nachrichtenübermittlung auf wechselnde Abnehmer gesetzt wurde. Gegen diesen Mann als ihren Ansprechpartner sprach auch, dass er mehrere Tage gezögert hatte, sich ihr so weit zu nähern, um die Buchtitel entziffern zu können. Und um die ging es ja. Der Titel des Buches zusammen mit ihrer Handstellung und welchen Finger sie leicht abspreizte, war der Code, den sie übermittelte. Üblicherweise erkannte sie ihre Kontaktperson nicht, entweder weil sie täglich ausgewechselt wurden oder sie von Ferne mit einem Fernglas beobachteten.
Eine andere Möglichkeit jagte ihr regelrecht Angst ein. Handelte es sich bei dem Kerl um einen Agenten vom Verfassungsschutz, der sie beschattete? Falls dies zutraf, machte er seine Arbeit ebenfalls nicht gut. Dennoch durfte sie diese Option nicht außer Acht lassen.
Natürlich bestand die Möglichkeit, dass dieser Mann nichts mit ihrem Auftrag zu tun hatte. Dass er sich nur für die Frau interessierte, die sie zur Tarnung darstellte. Diese vergeistigt wirkende Person in altmodischen Kleidern und der Brille auf der Nase. Der Mann erweckte nicht den Eindruck, ein Frauenheld zu sein. Vielleicht stand er auf Mauerblümchen, weil er sich eher eine Chance bei ihnen ausrechnete.
Ganz gleich, welche ihrer Spekulationen zutraf oder ob ein völlig anderer Grund für das regelmäßige Auftauchen dieses Kerls bestand, langsam wurde ihr die Sache unheimlich. Sie würde ihren Verbindungsoffizier bitten, ihr eine neue Stelle zuzuweisen. Entschlossen klappte sie das Buch zu und erhob sich von der Bank. Sie strich ihren Rock glatt und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Eine Weihnachtsgeschichte
Kriminalhauptkommissar Steffen Felder saß am Schreibtisch in seinem Büro und genoss die Stille. All seine Kollegen des Kommissariats waren nach Hause gegangen. Einer nach dem anderem hatte seinen Kopf hereingesteckt und und ihm »Frohe Weihnachten« gewünscht. Zum einen, weil es sich so gehörte und zum anderen, weil sie froh waren, dass er freiwillig den Bereitschaftsdienst für sämtliche Weihnachtstage übernommen hatte. Denjenigen unter ihnen, die ihn schon ein bisschen kannten oder über eine gute Menschenkenntnis verfügten, sah er an, dass sie insgeheim dachten, »froh« und Felder passten nicht zusammen. Ihm war es gleich, sollten sie doch denken, was sie wollten. Er hatte die Dienste nicht übernommen, um seinen neuen Kollegen einen Gefallen zu tun oder sich bei ihnen einzuschleimen. Er war im Gegenteil sogar erleichtert gewesen, dass es ihm erlaubt worden war, die Dienste zu übernehmen, obwohl er sich erst vor einigen Wochen hier nach Itzehoe hatte versetzen lassen.
Nein, der Grund war schlicht und ergreifend, dass er nie Weihnachten feierte, seit er an seinem achzehnten Geburtstag ausgezogen war und fortan jeden Kontakt mit seiner Familie vermieden hatte. Und auch davor hatte er die Weihnachtstage gehasst und sich nur zwangsweise und zähneknirschend an diesem heuchlerischen Spektakel beteiligt. Viele Erinnerungen daran hatte er zum Glück nicht. Weite Teile seiner Kindheit lagen unter dem Tuch des Vergessens. Verdrängung nannte man das wohl. Seine Psyche würde sicher wissen, warum sie es für angeraten hielt, keine Erinnerungen zuzulassen.
»Das Fest der Liebe«, pah. An diesen Tagen lagen sich die Familien in den Armen, beschenkten sich mit Dingen, die niemand brauchte und wollte, und spielten heile Welt unter dem Weihnachtsbaum. Als ob es keine Rolle spielte, was an den restlichen 362 Tagen des Jahres geschah. Da wurden die ungeliebte Großmutter, die nach Verfall und Kölnisch Wasser roch, besucht oder schlimmer noch sogar eingeladen, ebenso wie der alkoholkranke Onkel, in der Hoffnung, dass er dieses Jahr einmal nicht aus der Rolle fiel oder der Großvater aus dem Heim geholt, der nach dem zweiten Glas Wein lautstark verkündete, unter Hitler sei nicht alles schlecht gewesen.
Felder schauderte. Am schlimmsten erschienen ihm die Familien, die im kleinen Kreis feierten. Gefühlskälte und Desinteresse wurde an Heiligabend mit Geschenken überdeckt, mit denen das Kind dann doch alleine spielen musste, da die Erwachsenen Besseres zu tun hatten. Oder die Familien, in denen der Vater gewalttätig war und sogar der geschmückte Tannenbaum zu zittern schien vor Angst, er könne wegen einer Nichtigkeit wütend werden.
Für Felder waren die Weihnachtstage nichts als erzwungene Harmonie, die nicht selten zu einer Gewalttat führte – die Kriminalstatistik sprach hier eine deutliche Sprache. Und so war er froh und glücklich, Weihnachten ignorieren zu können. Alleinstehend wie er war, musste er mit niemanden Diskussionen über den Unsinn dieses Festes führen, sondern konnte in Ruhe hier in der Polizeidirektion sitzen und seinen Papierkram abarbeiten. Bisher war noch kein Notfall eingetreten, der seine Anwesenheit erfordert hätte. Wenn es weiterhin so ruhig blieb, hätte er am Ende der Feiertage mit Sicherheit den aufgeräumtesten Schreibtisch des ganzen Polizeihochhauses. Na ja, mit Ausnahme von Kollege Schliemann, der bekanntlich unter einer Zwangsstörung litt. Probehalber sortierte Felder die wild auf seinem Schreibtisch herumliegenden Stifte nach Größe, Form und Farbe und reihte sie feinsäuberlich nebeneinander auf. Auch seine Papiere stapelte er ordentlich übereinander und richtete den Stapel rechtwinklig zur Schreibtischkante aus. Anschließend blies er den Staub von der so freigewordenen Fläche. Er lehnte sich zurück und betrachtete sein Werk, doch ein wie auch immer gestaltetes Wohlbefinden wollte sich nicht einstellen. Offenbar hatte er zwar viele Macken, Ordnungszwang gehörte jedoch nicht dazu.
Das Schrillen des Telefons riss ihn aus seinen Überlegungen. Der wachhabende Beamte war am Apparat. »Gerade ist hier der Notruf eines Kindes eingegangen«, erklärte er. »Seine Mutter würde furchtbar schreien und alles sei voller Blut.«
Felder sprang auf. »Gibt es noch weitere Infos?«
»Außer Name und Adresse war nichts mehr aus dem Kind herauszubekommen. Ich habe ihm gesagt, es solle sich in seinem Zimmer einschließen, bis wir da sind. Wir schicken einen Streifenwagen, wollen Sie direkt mitfahren?«
»Ich komme«, sagte er und dachte »Quod erat demonstrandum.« Er schnappte sich seine Jacke, lief zum Treppenhaus und eilte die Stufen hinab. Vor der Tür wartete bereits der Streifenwagen mit laufendem Motor und Blaulicht. Felder riss die hintere Tür auf und sprang hinein. »Wohin geht es?«, fragte er atemlos.
»Moin«, kam es in aller Seelenruhe vom Beifahrersitz, der Kollege am Steuer gab Gas und schaltete das Martinshorn ein. Eine junge Beamtin drehte sich zu ihm um und nannte ihm eine Adresse, die, wie Felder schon erfahren hatte, zu einem der wenigen Hochhäuser in Itzehoe gehörte. Damit waren alle Klischees erfüllt. Eine Gewalttat im Familienkreis an Heiligabend in einem sozialen Brennpunkt.
Niemand sprach während der Fahrt. Felder konnte nur daran denken, dass ein Kind in Gefahr war. Gewalttaten unter Ehepaaren waren schlimm genug, besonders da es meistens die Frau traf, wenn jedoch außerdem Kinder beteiligt waren, wurde es richtig übel. Am liebsten hätte Felder den Kollegen zum schnelleren Fahren aufgeforderte, doch der gab schon alles. Mit quietschenden Reifen nahm er die letzte Abbiegung und kam vor dem Eingang des Hochhauses zum Stehen. Alle drei sprangen aus dem Wagen und rannten zur Haustür. Sie hielten sich nicht damit auf, nach dem Namen der Familie zu suchen, das Kind hatte ihnen das Stockwerk genannt. Felder drückte eine beliebige Klingel und als er ein Knacken in der Gegensprechanlage hörte, rief er: »Polizei, machen Sie bitte die Tür auf.« Der Summer ertönte, der Kollege drückte die Tür auf. Da die Familie im zweiten Stock wohnte, ignorierten sie den Aufzug und rannten die Stufen hinauf. Die junge Beamtin war als Erste oben. Atemlos zeigte sie auf eine der vom Flur abgehenden Türen. Über einem üppigen Weihnachtskranz hing ein selbstgebasteltes Türschild. »Hier wohnen Inger, Thorben und Nele Carstens« stand darauf in bunten Buchstaben.
Felder legte sein Ohr an die Tür und lauschte. Ein Hämmern war zu hören und eine männliche Stimme. »Warum schließt du dich ein? Mach endlich die Tür auf. Nele!«
Felder klingelte und schlug gleichzeitig mit der Faust gegen die Tür. »Aufmachen! Polizei!«
Die Tür wurde geöffnet. Ein junger Mann mit hochrotem Kopf und wirren Haaren stand ihnen gegenüber. Sie stürmten in den Flur. Der beiden Kollegen überwältigten ihn und rissen ihn zu Boden. Felder bekam dies nur aus dem Augenwinkel mit. Er stürzte an ihnen vorbei in das am Ende des Flures liegende Wohnzimmer und stoppte abrupt. Das Zimmer war in sanftes Licht getaucht, ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum stand vor dem Fenster zum Balkon, unter ihm noch nicht ausgepackte Geschenke. Doch was ihn hatte stoppen lassen, war der Geruch nach Schweiß und Blut. Und dann sah er sie.
Auf einem Ecksofa, das mit einem blutigen Laken bedeckt war, saß eine junge Frau gestützt durch zahlreiche Kissen in ihrem Rücken. Sie sah erschöpft aus, die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, und doch ging ein Strahlen von ihr aus, das die Zeit anhielt. Sie hielt ein in ein Handtuch gewickeltes Bündel im Arm. Als Felder ins Zimmer stürmte, hob sie den Kopf und lächelte. »Frohe Weihnachten«, sagte sie und zog ein Stück des Handtuchs zur Seite. Zum Vorschein kam das rote, zerknitterte Gesicht eines Neugeborenen. Felder trat näher und betrachtete das Kind. Seine Augen waren geschlossen, die winzigen Händchen zu Fäusten geballt, Käseschmiere bedeckte seinen Kopf. Und doch war dies das Schönste, was Felder je gesehen hatte. Tränen traten in seine Augen, die er ärgerlich fortblinzelte. Er verspürte den Drang, auf die Knie zu fallen, was er aber zum Glück unterdrücken konnte. So weit kam es noch. Tausend Worte gingen ihm durch den Kopf, Worte der Entschuldigung für ihr rüdes Eindringen, Fragen, warum sie nicht im Krankenhaus war und wo zum Teufel die Hebamme war und vieles mehr, doch das Einzige, was ihm über die Lippen kam, war: »Frohe Weihnachten.«
Mein Beitrag zum diesjährigen #bookdatecontest von BoD.
Das Thema lautet: Ich habe noch nie ...
Er starrte auf die vor ihm liegende Frau und wartete. Wartete auf den Beginn. Das Zittern setzte ein. Er begrüßte es, war es doch der Vorbote des Kommenden. Dann kam die Welle.
Das Messer rutschte aus seiner glitschigen Hand, fiel vor seine Füße.
Mit einer Mischung aus Schrei und Stöhnen warf er seinen Kopf in den Nacken. Sein Verstand wurde fortgetragen von der Flut der Gefühle, die ihn überschwemmten.
Dies war sein Weg – sein einziger Weg – wahrhaft zu leben. Kein Roboter mehr, der vorgab, ein Mensch zu sein. Eine kurze Zeit fühlte er, spürte sich, nahm Farben und Gerüche wahr. Das Rot des Blutes versetzte ihn in Verzückung, der metallische Geruch umschmeichelte seine Nase. Einem Hund gleich schnüffelte er, wollte jeden Hauch auskosten. Die Arme ausgebreitet drehte er sich um sich selbst, hüllte seinen bloßen Körper in den Duft, lachte und tanzte.
Er fiel auf die Knie, tauchte seine Hände in ihr Inneres, fühlte die Wärme, die noch in ihr war. Er zog seine Hände heraus und drehte sie bewundernd hin und her. Wie schön sie waren, von kräftigem Rot, glänzend. Liebevoll strich er sich über die Brust, hinterließ Gemälde auf seine Haut. Jetzt war auch er schön. Berauscht vom Feuerwerk seiner Sinne bewunderte er sich im Spiegel. Der perfekte Moment, der perfekte Mensch.
Er musste einen Menschen töten, um all das zu spüren. Das war es wert, hielt ihn am Leben. Für diesen Moment, in dem er sich der Illusion hingab, normal zu sein, tötete er – immer wieder.
Doch in diesem Rausch der Sinne fehlte ein Gefühl. Schmerzlich wurde es ihm bewusst und er schrieb mit Blut an die Wand:
Ich habe noch nie geweint!
Dieses fantastische Foto von Hape Berg, von dem das Titelbild und alle meine Coverfotos stammen, hat mich zu dieser kleinen Geschichte angeregt. Es wurde in Ronda, Andalusien aufgenommen.
Paradeiser
Es sollte ihr schönster Urlaub werden. Camilla war überzeugt, er würde es allein deswegen werden, weil es der erste nach so langer Zeit war. Zeit, die sie schier eingemauert in ihren vier Wänden ausgeharrt hatte, in der naiven Erwartung, es wäre bald vorbei. Doch das war es nicht, kleine Zwischenhochs ließen den anschließenden Absturz nur umso schmerzlicher erscheinen.
Zuletzt fühlte sie sich lebendig begraben. In einem Doppelgrab, denn Ben war immer bei ihr. Alles, was er sich für seinen Ruhestand vorgenommen hatte, war mit der Pandemie zum Erliegen gekommen. Und so saß er in seinem Sessel und wartete darauf, dass die Zeit verging. Während sie in Versuchung geriet, jede Kartoffel einzeln zu kaufen, nur um einen Grund zu finden, vor die Tür zu gehen. Zwischenzeitlich spielte sie sogar mit dem Gedanken, sich absichtlich zu infizieren, damit das Damoklesschwert endlich fiel. Wieder einmal bewahrheitete sich, dass die Angst vor einem Ereignis schwerer auszuhalten war, als das Ereignis selbst. Und vielleicht hätte sie es wirklich getan, wenn sie nicht befürchtet hätte, nicht an der Krankheit, sondern an mangelnder Fürsorge zugrunde zu gehen.
So vegetierte sie auf Sparflamme durch die Pandemie. Bis die Krankheit, kaum noch erhofft, ihren Schrecken verlor und vieles wieder möglich wurde. Sogar dieser langersehnte Urlaub.
Andalusien! Das Versprechen von Sonne, quirligen Städten, blauem Meer und köstlichen Tomaten voller Aroma. Schon immer verband sie Urlaub im Süden mit Tomaten, deren Saft ihr übers Kinn lief und sie vor Wonne stöhnen ließ.
Es regnet. Sie möchte sich für das Land freuen, das seit Jahren unter einer Dürre leidet. Aber es ist ihr heiß ersehnter Urlaub, das Kriechen aus ihrem Bau an die Sonne. Die nicht scheint. Sie steht auf dem Rollfeld und reckt ihr Gesicht gen Himmel. Der Regen vermischt sich mit ihren Tränen.
„So ein Mist“, sagt Ben. Er verzieht keine Miene. »Lass uns essen gehen, vielleicht hört es auf zu regnen.«
Es hört nicht auf. Auch das Essen enttäuscht. Die Nudeln sind kalt, passend zu den Temperaturen. Die Tomaten schmecken unreif und verwässert.
Im Hotel legt sich Ben auf das Bett und verfolgt im Internet die Fußballergebnisse.
Sie steht am offenen Fenster. Ein kühler Wind bläht die Vorhänge.
»Kannst du bitte das Fenster schließen, es ist kalt«, sagt Ben.
Sie kämpft mit der Enttäuschung, der Tiefpunkt ihres Lebens scheint erreicht.
Ab jetzt kann es nur noch bergauf gehen. Sie strafft den Rücken.
»Ich gehe«, sagt sie und ist sich sicher, Ben hat es nicht gehört.
Sie steckt ihr Portemonnaie ein, zieht die Jacke über und verlässt das Hotel. Über die regennasse Plaza, vorbei an leeren Tischen, die vergebens auf Gäste warten, durch schmale Gassen.
Dann ist die Stadt zu Ende, vor ihr liegt das weite Land. Der Regen hat die Luft reingespült, der rissige Boden zeigt einen ersten Hauch von Grün. Das Leben kehrt zurück. Sie lächelt. Dann geht sie weiter und taucht ein in dieses Land.