Moin!

An dieser Stelle findet ihr in unregelmäßigen Abständen Neuigkeiten, Gedanken, die ich mir mache, Kommentare zu Ereignissen oder Kurzgeschichten.

Eine Weihnachtsgeschichte

Kriminalhauptkommissar Steffen Felder saß am Schreibtisch in seinem Büro und genoss die Stille. All seine Kollegen des Kommissariats waren nach Hause gegangen. Einer nach dem anderem hatte seinen Kopf hereingesteckt und und ihm »Frohe Weihnachten« gewünscht. Zum einen, weil es sich so gehörte und zum anderen, weil sie froh waren, dass er freiwillig den Bereitschaftsdienst für sämtliche Weihnachtstage übernommen hatte. Denjenigen unter ihnen, die ihn schon ein bisschen kannten oder über eine gute Menschenkenntnis verfügten, sah er an, dass sie insgeheim dachten, »froh« und Felder passten nicht zusammen. Ihm war es gleich, sollten sie doch denken, was sie wollten. Er hatte die Dienste nicht übernommen, um seinen neuen Kollegen einen Gefallen zu tun oder sich bei ihnen einzuschleimen. Er war im Gegenteil sogar erleichtert gewesen, dass es ihm erlaubt worden war, die Dienste zu übernehmen, obwohl er sich erst vor einigen Wochen hier nach Itzehoe hatte versetzen lassen. 
Nein, der Grund war schlicht und ergreifend, dass er nie Weihnachten feierte, seit er an seinem achzehnten Geburtstag ausgezogen war und fortan jeden Kontakt mit seiner Familie vermieden hatte. Und auch davor hatte er die Weihnachtstage gehasst und sich nur zwangsweise und zähneknirschend an diesem heuchlerischen Spektakel beteiligt. Viele Erinnerungen daran hatte er zum Glück nicht. Weite Teile seiner Kindheit lagen unter dem Tuch des Vergessens. Verdrängung nannte man das wohl. Seine Psyche würde sicher wissen, warum sie es für angeraten hielt, keine Erinnerungen zuzulassen.
 »Das Fest der Liebe«, pah. An diesen Tagen lagen sich die Familien in den Armen, beschenkten sich mit Dingen, die niemand brauchte und wollte, und spielten heile Welt unter dem Weihnachtsbaum. Als ob es keine Rolle spielte, was an den restlichen 362 Tagen des Jahres geschah. Da wurden die ungeliebte Großmutter, die nach Verfall und Kölnisch Wasser roch, besucht oder schlimmer noch sogar eingeladen, ebenso wie der alkoholkranke Onkel, in der Hoffnung, dass er dieses Jahr einmal nicht aus der Rolle fiel oder der Großvater aus dem Heim geholt, der nach dem zweiten Glas Wein lautstark verkündete, unter Hitler sei nicht alles schlecht gewesen.
Felder schauderte. Am schlimmsten erschienen ihm die Familien, die im kleinen Kreis feierten. Gefühlskälte und Desinteresse wurde an Heiligabend mit Geschenken überdeckt, mit denen das Kind dann doch alleine spielen musste, da die Erwachsenen Besseres zu tun hatten. Oder die Familien, in denen der Vater gewalttätig war und sogar der geschmückte Tannenbaum zu zittern schien vor Angst, er könne wegen einer Nichtigkeit wütend werden.
Für Felder waren die Weihnachtstage nichts als erzwungene Harmonie, die nicht selten zu einer Gewalttat führte – die Kriminalstatistik sprach hier eine deutliche Sprache. Und so war er froh und glücklich, Weihnachten ignorieren zu können. Alleinstehend wie er war, musste er mit niemanden Diskussionen über den Unsinn dieses Festes führen, sondern konnte in Ruhe hier in der Polizeidirektion sitzen und seinen Papierkram abarbeiten. Bisher war noch kein Notfall eingetreten, der seine Anwesenheit erfordert hätte. Wenn es weiterhin so ruhig blieb, hätte er am Ende der Feiertage mit Sicherheit den aufgeräumtesten Schreibtisch des ganzen Polizeihochhauses. Na ja, mit Ausnahme von Kollege Schliemann, der bekanntlich unter einer Zwangsstörung litt. Probehalber sortierte Felder die wild auf seinem Schreibtisch herumliegenden Stifte nach Größe, Form und Farbe und reihte sie feinsäuberlich nebeneinander auf. Auch seine Papiere stapelte er ordentlich übereinander und richtete den Stapel rechtwinklig zur Schreibtischkante aus. Anschließend blies er den Staub von der so freigewordenen Fläche. Er lehnte sich zurück und betrachtete sein Werk, doch ein wie auch immer gestaltetes Wohlbefinden wollte sich nicht einstellen. Offenbar hatte er zwar viele Macken, Ordnungszwang gehörte jedoch nicht dazu.
Das Schrillen des Telefons riss ihn aus seinen Überlegungen. Der wachhabende Beamte war am Apparat. »Gerade ist hier der Notruf eines Kindes eingegangen«, erklärte er. »Seine Mutter würde furchtbar schreien und alles sei voller Blut.« 
Felder sprang auf. »Gibt es noch weitere Infos?«
»Außer Name und Adresse war nichts mehr aus dem Kind herauszubekommen. Ich habe ihm gesagt, es solle sich in seinem Zimmer einschließen, bis wir da sind. Wir schicken einen Streifenwagen, wollen Sie direkt mitfahren?«
»Ich komme«, sagte er und dachte »Quod erat demonstrandum.« Er schnappte sich seine Jacke, lief zum Treppenhaus und eilte die Stufen hinab. Vor der Tür wartete bereits der Streifenwagen mit laufendem Motor und Blaulicht. Felder riss die hintere Tür auf und sprang hinein. »Wohin geht es?«, fragte er atemlos.
»Moin«, kam es in aller Seelenruhe vom Beifahrersitz, der Kollege am Steuer gab Gas und schaltete das Martinshorn ein. Eine junge Beamtin drehte sich zu ihm um und nannte ihm eine Adresse, die, wie Felder schon erfahren hatte, zu einem der wenigen Hochhäuser in Itzehoe gehörte. Damit waren alle Klischees erfüllt. Eine Gewalttat im Familienkreis an Heiligabend in einem sozialen Brennpunkt.
Niemand sprach während der Fahrt. Felder konnte nur daran denken, dass ein Kind in Gefahr war. Gewalttaten unter Ehepaaren waren schlimm genug, besonders da es meistens die Frau traf, wenn jedoch außerdem Kinder beteiligt waren, wurde es richtig übel. Am liebsten hätte Felder den Kollegen zum schnelleren Fahren aufgeforderte, doch der gab schon alles. Mit quietschenden Reifen nahm er die letzte Abbiegung und kam vor dem Eingang des Hochhauses zum Stehen. Alle drei sprangen aus dem Wagen und rannten zur Haustür. Sie hielten sich nicht damit auf, nach dem Namen der Familie zu suchen, das Kind hatte ihnen das Stockwerk genannt. Felder drückte eine beliebige Klingel und als er ein Knacken in der Gegensprechanlage hörte, rief er: »Polizei, machen Sie bitte die Tür auf.« Der Summer ertönte, der Kollege drückte die Tür auf. Da die Familie im zweiten Stock wohnte, ignorierten sie den Aufzug und rannten die Stufen hinauf. Die junge Beamtin war als Erste oben. Atemlos zeigte sie auf eine der vom Flur abgehenden Türen. Über einem üppigen Weihnachtskranz hing ein selbstgebasteltes Türschild. »Hier wohnen Inger, Thorben und Nele Carstens« stand darauf in bunten Buchstaben. 
Felder legte sein Ohr an die Tür und lauschte. Ein Hämmern war zu hören und eine männliche Stimme. »Warum schließt du dich ein? Mach endlich die Tür auf. Nele!«
Felder klingelte und schlug gleichzeitig mit der Faust gegen die Tür. »Aufmachen! Polizei!«
Die Tür wurde geöffnet. Ein junger Mann mit hochrotem Kopf und wirren Haaren stand ihnen gegenüber. Sie stürmten in den Flur. Der beiden Kollegen überwältigten ihn und rissen ihn zu Boden. Felder bekam dies nur aus dem Augenwinkel mit. Er stürzte an ihnen vorbei in das am Ende des Flures liegende Wohnzimmer und stoppte abrupt. Das Zimmer war in sanftes Licht getaucht, ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum stand vor dem Fenster zum Balkon, unter ihm noch nicht ausgepackte Geschenke. Doch was ihn hatte stoppen lassen, war der Geruch nach Schweiß und Blut. Und dann sah er sie. 
Auf einem Ecksofa, das mit einem blutigen Laken bedeckt war, saß eine junge Frau gestützt durch zahlreiche Kissen in ihrem Rücken. Sie sah erschöpft aus, die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, und doch ging ein Strahlen von ihr aus, das die Zeit anhielt. Sie hielt ein in ein Handtuch gewickeltes Bündel im Arm. Als Felder ins Zimmer stürmte, hob sie den Kopf und lächelte. »Frohe Weihnachten«, sagte sie und zog ein Stück des Handtuchs zur Seite. Zum Vorschein kam das rote, zerknitterte Gesicht eines Neugeborenen. Felder trat näher und betrachtete das Kind. Seine Augen waren geschlossen, die winzigen Händchen zu Fäusten geballt, Käseschmiere bedeckte seinen Kopf. Und doch war dies das Schönste, was Felder je gesehen hatte. Tränen traten in seine Augen, die er ärgerlich fortblinzelte. Er verspürte den Drang, auf die Knie zu fallen, was er aber zum Glück unterdrücken konnte. So weit kam es noch. Tausend Worte gingen ihm durch den Kopf, Worte der Entschuldigung für ihr rüdes Eindringen, Fragen, warum sie nicht im Krankenhaus war und wo zum Teufel die Hebamme war und vieles mehr, doch das Einzige, was ihm über die Lippen kam, war: »Frohe Weihnachten.«

Mein Beitrag zum diesjährigen #bookdatecontest von BoD.
Das Thema lautet: Ich habe noch nie ...

 

Er starrte auf die vor ihm liegende Frau und wartete. Wartete auf den Beginn. Das Zittern setzte ein. Er begrüßte es, war es doch der Vorbote des Kommenden. Dann kam die Welle. 

Das Messer rutschte aus seiner glitschigen Hand, fiel vor seine Füße. 

Mit einer Mischung aus Schrei und Stöhnen warf er seinen Kopf in den Nacken. Sein Verstand wurde fortgetragen von der Flut der Gefühle, die ihn überschwemmten. 

Dies war sein Weg – sein einziger Weg – wahrhaft zu leben. Kein Roboter mehr, der vorgab, ein Mensch zu sein. Eine kurze Zeit fühlte er, spürte sich, nahm Farben und Gerüche wahr. Das Rot des Blutes versetzte ihn in Verzückung, der metallische Geruch umschmeichelte seine Nase. Einem Hund gleich schnüffelte er, wollte jeden Hauch auskosten. Die Arme ausgebreitet drehte er sich um sich selbst, hüllte seinen bloßen Körper in den Duft, lachte und tanzte. 

Er fiel auf die Knie, tauchte seine Hände in ihr Inneres, fühlte die Wärme, die noch in ihr war. Er zog seine Hände heraus und drehte sie bewundernd hin und her. Wie schön sie waren, von kräftigem Rot, glänzend. Liebevoll strich er sich über die Brust, hinterließ Gemälde auf seine Haut. Jetzt war auch er schön. Berauscht vom Feuerwerk seiner Sinne bewunderte er sich im Spiegel. Der perfekte Moment, der perfekte Mensch. 

Er musste einen Menschen töten, um all das zu spüren. Das war es wert, hielt ihn am Leben. Für diesen Moment, in dem er sich der Illusion hingab, normal zu sein, tötete er – immer wieder. 

Doch in diesem Rausch der Sinne fehlte ein Gefühl. Schmerzlich wurde es ihm bewusst und er schrieb mit Blut an die Wand: 

Ich habe noch nie geweint! 

Dieses fantastische Foto von Hape Berg, von dem das Titelbild und alle meine Coverfotos stammen, hat mich zu dieser kleinen Geschichte angeregt. Es wurde in Ronda, Andalusien aufgenommen.

Paradeiser

Es sollte ihr schönster Urlaub werden. Camilla war überzeugt, er würde es allein deswegen werden, weil es der erste nach so langer Zeit war. Zeit, die sie schier eingemauert in ihren vier Wänden ausgeharrt hatte, in der naiven Erwartung, es wäre bald vorbei. Doch das war es nicht, kleine Zwischenhochs ließen den anschließenden Absturz nur umso schmerzlicher erscheinen. 
Zuletzt fühlte sie sich lebendig begraben. In einem Doppelgrab, denn Ben war immer bei ihr. Alles, was er sich für seinen Ruhestand vorgenommen hatte, war mit der Pandemie zum Erliegen gekommen. Und so saß er in seinem Sessel und wartete darauf, dass die Zeit verging. Während sie in Versuchung geriet, jede Kartoffel einzeln zu kaufen, nur um einen Grund zu finden, vor die Tür zu gehen. Zwischenzeitlich spielte sie sogar mit dem Gedanken, sich absichtlich zu infizieren, damit das Damoklesschwert endlich fiel. Wieder einmal bewahrheitete sich, dass die Angst vor einem Ereignis schwerer auszuhalten war, als das Ereignis selbst. Und vielleicht hätte sie es wirklich getan, wenn sie nicht befürchtet hätte, nicht an der Krankheit, sondern an mangelnder Fürsorge zugrunde zu gehen. 
So vegetierte sie auf Sparflamme durch die Pandemie. Bis die Krankheit, kaum noch erhofft, ihren Schrecken verlor und vieles wieder möglich wurde. Sogar dieser langersehnte Urlaub. 
Andalusien! Das Versprechen von Sonne, quirligen Städten, blauem Meer und köstlichen Tomaten voller Aroma. Schon immer verband sie Urlaub im Süden mit Tomaten, deren Saft ihr übers Kinn lief und sie vor Wonne stöhnen ließ. 

Es regnet. Sie möchte sich für das Land freuen, das seit Jahren unter einer Dürre leidet. Aber es ist ihr heiß ersehnter Urlaub, das Kriechen aus ihrem Bau an die Sonne. Die nicht scheint. Sie steht auf dem Rollfeld und reckt ihr Gesicht gen Himmel. Der Regen vermischt sich mit ihren Tränen.
„So ein Mist“, sagt Ben. Er verzieht keine Miene. »Lass uns essen gehen, vielleicht hört es auf zu regnen.«
Es hört nicht auf. Auch das Essen enttäuscht. Die Nudeln sind kalt, passend zu den Temperaturen. Die Tomaten schmecken unreif und verwässert.

Im Hotel legt sich Ben auf das Bett und verfolgt im Internet die Fußballergebnisse. 
Sie steht am offenen Fenster. Ein kühler Wind bläht die Vorhänge.
»Kannst du bitte das Fenster schließen, es ist kalt«, sagt Ben.
Sie kämpft mit der Enttäuschung, der Tiefpunkt ihres Lebens scheint erreicht.
Ab jetzt kann es nur noch bergauf gehen. Sie strafft den Rücken.
»Ich gehe«, sagt sie und ist sich sicher, Ben hat es nicht gehört.
Sie steckt ihr Portemonnaie ein, zieht die Jacke über und verlässt das Hotel. Über die regennasse Plaza, vorbei an leeren Tischen, die vergebens auf Gäste warten, durch schmale Gassen. 
Dann ist die Stadt zu Ende, vor ihr liegt das weite Land. Der Regen hat die Luft reingespült, der rissige Boden zeigt einen ersten Hauch von Grün. Das Leben kehrt zurück. Sie lächelt. Dann geht sie weiter und taucht ein in dieses Land.

Mein Beitrag  zum Bookdate Contest von BoD. Das Thema lautete: "Ich bin angekommen"


Eine kleine Geschichte vom Segeln

Es ist dunkel, als du mir die Bettdecke wegziehst. Bibbernd krümme ich mich, will nicht wahrhaben, dass ich aufstehen muss. Doch du bist erbarmungslos. »Steh auf!«, flüsterst du. Mutter soll dich nicht hören. Warum eigentlich nicht? Glaubst du ernsthaft, sie weiß nicht, was du tust? Warum, denkst du, presst sie sich an die Wand, wenn du an ihr vorübergehst? Du könntest deine schändlichen Taten vor ihren Augen begehen, sie würde nichts sagen. Zu groß ist ihre Furcht, die kaum verheilten Wunden auf ihrem Körper sprechen ihre eigene Sprache. Ich rolle mich auf den Bauch, erwarte den ersten Schlag, doch du überrascht mich. »Wir gehen segeln«, sagst du. »Wir müssen früh los, sonst erreichen wir Helgoland nicht mehr.« Helgoland, diese Insel mitten im weiten Meer, das Versprechen eines Abenteuers. »Nur wir zwei«, fügst du hinzu. »Kommt Mutter nicht mit?«, frage ich. »Sie fürchtet sich vor der dunklen See. Das ist etwas für Männer.« 

 Es ist ein schöner Tag, die Sonne strahlt, ein steter Wind füllt unsere Segel. Ich liege auf dem Deck, beobachte dich, du schaltest die Selbststeuerung ein. Mir wird kalt, ich zittere. Du winkst mich herbei, deutest auf den Niedergang zur Kajüte. Gleich einer Marionette an ihren Fäden folge ich dir willenlos. Ich versuche, nichts zu fühlen, starre aus dem Kajütenfenster, zähle die Wolken am Himmel. Es werden immer mehr. Sie türmen sich auf, werden dunkel. Du bist zu abgelenkt, bemerkst es nicht. 

Und dann ist das Gewitter da. Das Boot schlingert, legt sich auf die Seite. Wütend schreist du auf, stürmst an Deck, bemühst dich, die Segel einzuholen. Der Regen peitscht dir ins Gesicht. Mit aller Kraft halte ich das Ruder, meine Arme zittern vor Anstrengung. Über das aufgewühlte Wasser sehe ich eine Bö auf uns zurollen. Sie wird uns von der Seite treffen, ich muss gegensteuern. Und tue es nicht. Ich lasse das Ruder los. Der Mastbaum schlägt um, trifft dich. Mit einem fassungslosen Blick stürzt du über Bord. 

Helgoland! Ich bin angekommen – du nicht.