Moin!

An dieser Stelle findet ihr in unregelmäßigen Abständen Neuigkeiten, Gedanken, die ich mir mache, Kommentare zu Ereignissen oder Kurzgeschichten.

Mein Beitrag zum diesjährigen #bookdatecontest von BoD.
Das Thema lautet: Ich habe noch nie ...

 

Er starrte auf die vor ihm liegende Frau und wartete. Wartete auf den Beginn. Das Zittern setzte ein. Er begrüßte es, war es doch der Vorbote des Kommenden. Dann kam die Welle. 

Das Messer rutschte aus seiner glitschigen Hand, fiel vor seine Füße. 

Mit einer Mischung aus Schrei und Stöhnen warf er seinen Kopf in den Nacken. Sein Verstand wurde fortgetragen von der Flut der Gefühle, die ihn überschwemmten. 

Dies war sein Weg – sein einziger Weg – wahrhaft zu leben. Kein Roboter mehr, der vorgab, ein Mensch zu sein. Eine kurze Zeit fühlte er, spürte sich, nahm Farben und Gerüche wahr. Das Rot des Blutes versetzte ihn in Verzückung, der metallische Geruch umschmeichelte seine Nase. Einem Hund gleich schnüffelte er, wollte jeden Hauch auskosten. Die Arme ausgebreitet drehte er sich um sich selbst, hüllte seinen bloßen Körper in den Duft, lachte und tanzte. 

Er fiel auf die Knie, tauchte seine Hände in ihr Inneres, fühlte die Wärme, die noch in ihr war. Er zog seine Hände heraus und drehte sie bewundernd hin und her. Wie schön sie waren, von kräftigem Rot, glänzend. Liebevoll strich er sich über die Brust, hinterließ Gemälde auf seine Haut. Jetzt war auch er schön. Berauscht vom Feuerwerk seiner Sinne bewunderte er sich im Spiegel. Der perfekte Moment, der perfekte Mensch. 

Er musste einen Menschen töten, um all das zu spüren. Das war es wert, hielt ihn am Leben. Für diesen Moment, in dem er sich der Illusion hingab, normal zu sein, tötete er – immer wieder. 

Doch in diesem Rausch der Sinne fehlte ein Gefühl. Schmerzlich wurde es ihm bewusst und er schrieb mit Blut an die Wand: 

Ich habe noch nie geweint! 

Dieses fantastische Foto von Hape Berg, von dem das Titelbild und alle meine Coverfotos stammen, hat mich zu dieser kleinen Geschichte angeregt. Es wurde in Ronda, Andalusien aufgenommen.

Paradeiser

Es sollte ihr schönster Urlaub werden. Camilla war überzeugt, er würde es allein deswegen werden, weil es der erste nach so langer Zeit war. Zeit, die sie schier eingemauert in ihren vier Wänden ausgeharrt hatte, in der naiven Erwartung, es wäre bald vorbei. Doch das war es nicht, kleine Zwischenhochs ließen den anschließenden Absturz nur umso schmerzlicher erscheinen. 
Zuletzt fühlte sie sich lebendig begraben. In einem Doppelgrab, denn Ben war immer bei ihr. Alles, was er sich für seinen Ruhestand vorgenommen hatte, war mit der Pandemie zum Erliegen gekommen. Und so saß er in seinem Sessel und wartete darauf, dass die Zeit verging. Während sie in Versuchung geriet, jede Kartoffel einzeln zu kaufen, nur um einen Grund zu finden, vor die Tür zu gehen. Zwischenzeitlich spielte sie sogar mit dem Gedanken, sich absichtlich zu infizieren, damit das Damoklesschwert endlich fiel. Wieder einmal bewahrheitete sich, dass die Angst vor einem Ereignis schwerer auszuhalten war, als das Ereignis selbst. Und vielleicht hätte sie es wirklich getan, wenn sie nicht befürchtet hätte, nicht an der Krankheit, sondern an mangelnder Fürsorge zugrunde zu gehen. 
So vegetierte sie auf Sparflamme durch die Pandemie. Bis die Krankheit, kaum noch erhofft, ihren Schrecken verlor und vieles wieder möglich wurde. Sogar dieser langersehnte Urlaub. 
Andalusien! Das Versprechen von Sonne, quirligen Städten, blauem Meer und köstlichen Tomaten voller Aroma. Schon immer verband sie Urlaub im Süden mit Tomaten, deren Saft ihr übers Kinn lief und sie vor Wonne stöhnen ließ. 

Es regnet. Sie möchte sich für das Land freuen, das seit Jahren unter einer Dürre leidet. Aber es ist ihr heiß ersehnter Urlaub, das Kriechen aus ihrem Bau an die Sonne. Die nicht scheint. Sie steht auf dem Rollfeld und reckt ihr Gesicht gen Himmel. Der Regen vermischt sich mit ihren Tränen.
„So ein Mist“, sagt Ben. Er verzieht keine Miene. »Lass uns essen gehen, vielleicht hört es auf zu regnen.«
Es hört nicht auf. Auch das Essen enttäuscht. Die Nudeln sind kalt, passend zu den Temperaturen. Die Tomaten schmecken unreif und verwässert.

Im Hotel legt sich Ben auf das Bett und verfolgt im Internet die Fußballergebnisse. 
Sie steht am offenen Fenster. Ein kühler Wind bläht die Vorhänge.
»Kannst du bitte das Fenster schließen, es ist kalt«, sagt Ben.
Sie kämpft mit der Enttäuschung, der Tiefpunkt ihres Lebens scheint erreicht.
Ab jetzt kann es nur noch bergauf gehen. Sie strafft den Rücken.
»Ich gehe«, sagt sie und ist sich sicher, Ben hat es nicht gehört.
Sie steckt ihr Portemonnaie ein, zieht die Jacke über und verlässt das Hotel. Über die regennasse Plaza, vorbei an leeren Tischen, die vergebens auf Gäste warten, durch schmale Gassen. 
Dann ist die Stadt zu Ende, vor ihr liegt das weite Land. Der Regen hat die Luft reingespült, der rissige Boden zeigt einen ersten Hauch von Grün. Das Leben kehrt zurück. Sie lächelt. Dann geht sie weiter und taucht ein in dieses Land.

Mein Beitrag  zum Bookdate Contest von BoD. Das Thema lautete: "Ich bin angekommen"


Eine kleine Geschichte vom Segeln

Es ist dunkel, als du mir die Bettdecke wegziehst. Bibbernd krümme ich mich, will nicht wahrhaben, dass ich aufstehen muss. Doch du bist erbarmungslos. »Steh auf!«, flüsterst du. Mutter soll dich nicht hören. Warum eigentlich nicht? Glaubst du ernsthaft, sie weiß nicht, was du tust? Warum, denkst du, presst sie sich an die Wand, wenn du an ihr vorübergehst? Du könntest deine schändlichen Taten vor ihren Augen begehen, sie würde nichts sagen. Zu groß ist ihre Furcht, die kaum verheilten Wunden auf ihrem Körper sprechen ihre eigene Sprache. Ich rolle mich auf den Bauch, erwarte den ersten Schlag, doch du überrascht mich. »Wir gehen segeln«, sagst du. »Wir müssen früh los, sonst erreichen wir Helgoland nicht mehr.« Helgoland, diese Insel mitten im weiten Meer, das Versprechen eines Abenteuers. »Nur wir zwei«, fügst du hinzu. »Kommt Mutter nicht mit?«, frage ich. »Sie fürchtet sich vor der dunklen See. Das ist etwas für Männer.« 

 Es ist ein schöner Tag, die Sonne strahlt, ein steter Wind füllt unsere Segel. Ich liege auf dem Deck, beobachte dich, du schaltest die Selbststeuerung ein. Mir wird kalt, ich zittere. Du winkst mich herbei, deutest auf den Niedergang zur Kajüte. Gleich einer Marionette an ihren Fäden folge ich dir willenlos. Ich versuche, nichts zu fühlen, starre aus dem Kajütenfenster, zähle die Wolken am Himmel. Es werden immer mehr. Sie türmen sich auf, werden dunkel. Du bist zu abgelenkt, bemerkst es nicht. 

Und dann ist das Gewitter da. Das Boot schlingert, legt sich auf die Seite. Wütend schreist du auf, stürmst an Deck, bemühst dich, die Segel einzuholen. Der Regen peitscht dir ins Gesicht. Mit aller Kraft halte ich das Ruder, meine Arme zittern vor Anstrengung. Über das aufgewühlte Wasser sehe ich eine Bö auf uns zurollen. Sie wird uns von der Seite treffen, ich muss gegensteuern. Und tue es nicht. Ich lasse das Ruder los. Der Mastbaum schlägt um, trifft dich. Mit einem fassungslosen Blick stürzt du über Bord. 

Helgoland! Ich bin angekommen – du nicht.